W I N D R Ä D E R


Eines Tages an einen herbstlichen Nachmittag in der Nähe des Ortes Barth im Nordosten der Republik; ein Ausflug um die vergehende Zeit mit Sinn zu erfüllen. Eine Tagung des "Arbeitskreises für Hausforschung" hat mich an diesen Ort verschlagen. Nun versuche ich der Sicherheit umbauter Räume zu entkommen und den Diskussionen und Vorträgen, die sich um die Architektur alter und neuer Häuser drehen zu entfliehen und setzte mich den Naturgewalten aus. Eine Rundfahrt mit einem geliehenen grünen Fahrrad über eine diesige Landschaft zwischen Hügeln und Meer - durch den stürmischen Wind, der die wattigen Wolken in Fetzen gerrissen hat und nun wie eine weiß-graue Herde vor sich herjagt.

Auf der Fahrt hierher hatte mir eine alte Bekannte in Berlin aus Spaß ein Horoskop gestellt und mich gewarnt, ich solle in den nächsten Tagen vorsichtig sein, denn "es könnte mir was passieren". Das Wetter wird immer schlechter und es wird bald dunkel werden; so radele ich langsam und vorsichtig meinen Weg und lasse die Räder, meine Beine und die Gedanken kreisen... Wildgänse und Kraniche reiten auf dem scharfen Wind - nur ich einsamer Mensch reite auf einem Drahtesel kämpfe verbissen gegen diesen Wind an, der mir meine eigenen Haare und seinen Sprühregen ins Gesicht bläst.

"Die Natur macht sich nicht abhängig von menschlichem Wohlbefinden. Sie ist sich selbst genug und bedarf keines äußeren Spiegels wie die meisten Menschen. So kennt sie keine Konkurrenz und keine Notwendigkeit. Sie ist absolut Zweckfrei...", sinniere ich vor mich hin, als ich einen Hügel erklimme. Er ist steil und nach alter Gewohnheit schiebe ich das Fahrrad, dieses Eisengestänge, das sich der Schwerkraft zu meiner Bequemlichkeit nicht widersetzen mag. Ich bleibe kurz stehen um tief Luft zu holen und sehe mich um: "Ich richte meinen Blick auf zu den Hügeln, von woher kommt mir Hilfe?" seufzt mein Gehirn als Reaktion auf die Signale des anhängenden Restkörpers; "... wohl zuviel in der Bibel gelesen ?!" kontert mein Ich hämisch zurück - und dann bemerke ich die schwingenden Lanzenspitzen, die über den Horizont vor mir hinausstechen.

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"... Indem sahen sie wohl dreißig bis vierzig Windmühlen, die hier auf dem Felde standen, und sowie sie Don Quijote erblickte, sagte er zu seinem Knappen: "Das Glück fährt unsere Sache besser, als wir es nur wünschen konnten, denn siehe, Freund Sancho, dort zeigen sich dreißig oder noch mehr ungeheure Riesen, mit denen ich eine Schlacht zu halten gesonnen bin und ihnen all das Leben zu nehmen, mit der Beute wollen wir den Anfang unseres Reichtums machen, denn dies ist ein trefflicher Krieg und selbst ein Gottesdienst, diese Brut vom Angesichte der Erde zu vertilgen."

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Als ich die Krone meines persönlichen Golgatha-Hügels erreicht habe sehe ich mich einer Armee von Kriegern gegenüber, die sich auf dem freien Feld vor mir in langen Reihen aufgebaut hat: Metallene schlanke Recken aus Stahl, Eisen, Aluminium und Farbe; gepanzerte Helden, die aus einer Zukunft zu stammen scheinen, die schon einmal Vergangenheit war. Fest in der Erde verankert vollführen sie mit ihren drei Armen einen sonderbaren Ritus, bei dem sie geheime Chiffren in den Wind schreiben. "Geschaffen aus Metall erfüllen sie fast schon die Kriterien für Leben - und da sie den Naturgesetzen unterworfen sind, also der puren Notwendigkeit - erkennen sie auch keine Autorität an, denn sie besitzen keine Moral. Ein Sachverhalt, der sie wohltuend vom Rest der Menschheit abhebt ...", wie ich in diesem Moment voller Sympathie empfinde.

So stehe ich da - in der Betrachtung und der Weite der Landschaft verloren - und staune: Der Wind schenkt diesen Geschöpfen die Kraft der Bewegung; das Feuer und die Erze der Erde die Form und die Arbeit schließlich die Gestalt. Ihre schmalen langen Arme, die in Spitzen auslaufen haben fast die Form von Schwertern. Als ich mich ihnen nähere verspühre ich nun doch Angst, sie könnten einen dieser lanzettförmigen Speere nach mir werfen und mich damit erschlagen. Aber sie genügen sich selbst in ihrer kreisenden Kommunikation.

"Die Dreiheit ihrer Flügel schafft wegen des langsamen Laufes nicht den Eindruck eines Kreises, der als etwas beruhigendes und Vollkommenes aufgefasst wird. Diese drei Arme zerhacken den gleichmäßigen Wind mit ihrer Bewegung. Es sind nicht die blumenförmigen, dickfleischigen und gemütlichen Windrädchen meiner Kindheit, die romantische Naturen unserer Generation heute noch zwischen ihre Blumenrabatten stecken und die Kinderseelen erfreuen mit ihrer sirrenden, bunten Rastlosigkeit. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes 'Handhabbar', denn das Individuum stellt es nach eigenem Willen in den Wind, oder entzieht es ihm wieder - diese Riesen hier sind es nicht mehr."

Ich beginne mich bedroht zu fühlen, kann aber der Faszination dieser eingebildeten Gefahr und exotisch fremden Existenz nicht entgehen. Es ist aber sicher nur ein Problem des Menschen sich selbst zu wichtig zu nehmen! - Ich nähere mich mit einem ängstlichen Gefühl, das sich durchaus mit 'Genuß' umschreiben läßt, dem mir nächst Stehenden: "Wer seid ihr, die Ihr Euch von Euren Schöpfern unabhängig gemacht habt? Seid ihr die neuen Götter oder eine andere Form von Leben... - oder eine Versammlung von Sklaven?"

Der Gedanke selbst scheint absurd, aber in dieser unwirklichen Stimmung und dem fahlen Licht kurz vor dem Einsetzen der Dämmerung ist er durchaus erlaubt, wenn man in einer solch merkwürdigen Stimmung ist, wie ich es war und einen Moment lang auf die Grenzen des Lebens gestoßen zu sein scheint.

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"Welche Riesen?" fragte Sancho Pansa. "Die du dorten siehst", antwortete sein Herr, "mit den gewaltigen Armen, sie wohl zwei Meilen lang sind." "Seht doch hin, gnädiger Herr," sagte Sancho, "das, was da steht, sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was ihr für Arme haltet, sind Flügel, die der Wind umdreht, wodurch der Mühlenstein in Gang gebracht wird." "Es scheint wohl," antwortete Don Quijote, "du bist in Abenteuern nicht sonderlich bewandert. Es sind Riesen, und wenn du dich fürchtest, so gehe von hier und ergib dich in einiger Entfernung dem Gebete, indes ich die schreckliche und ungleiche Schlacht mit ihnen beginne." Mit diesen Worten gab er seinem Pferde Rosinante die Sporen, ohne auf die Stimme seines Knappen Sancho zu achten, der ihm noch immer nachrief, daß es ganz gewiß Windmühlen und nicht Riesen wären, was er angreifen wollte. Aber er war so fest von den Riesen überzeugt, daß er weder auf die Stimme seines Stallmeisters Sancho hörte, noch sich zu sehen bemühte ..."

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Die einbeinigen Helden mir gegenüber scheinen untereinander zu tuscheln. Ihre Stimmen sind die Stimmen des Windes. Asthmatisches Pfeifen wie ein immerwährendes Einathmen, oder ein kreisendes Zischen, das mit einem ploppenden Geräusch seinen Anfang und sein Ende zugleich nimmt. Jedem dieser übergroßen Ritter ist ein kleiner grüner quadratischer, aber immernoch übermenschlich großer Begleiter beigegeben; der zu ihren Füßen hockt. Beide scheinen in einer ständigen Diskussion miteinander zu liegen, denn jeder kleine Grüne beschwört seinen großen weißen Riesen flüsternd mit einem dauernden leisen hohen Sirrem und manchmal auch mit einem schmatzendem Knacken das tief in seinem Inneren eingeschlossen ist. Von hoch oben herab antworten die langen Recken - oder reden Sie nur mit ihresgleichen? - Es ist schon eine merkwürdige Konferenz die dort zwischen Sturm und Nebel stattfindet und die mich in ihrer technischen Unverständlichkeit an eine Verschwörung erinnert.

Die Vögel, Angehörige der belebten Welt und Kinder der Lüfte, spüren das auch und sie ignorieren die Riesen. Sie ziehen hoch darüber hinweg; umkreisen sie auch nicht spielerisch, wie sie es sonst bei hohen Gebäuden oder alten Windmühlen zu tun pflegen. Die metallene Glätte bietet ihnen keine Heimat. Auch unsere menschlichen Kleinbürger stellen sich lieber eine gemütliche Windmühle aus Holz in den Vorgarten um sich daran zu erfreuen. Nur die Saatkrähen zu Füßen der technischen Anlagen plündern das Feld auf dem die Metallkolosse stehen und tun so, als seien sie allein mit dem Wind und der aufgebrochenen Erde.

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"Und indem er dies sagte und sich mit ganzer Seele seiner Gebieterin Dulchinea empfahl, die er anflehte, ihm in dieser Gefährlichkeit zu helfen, wohl von seinem Schilde bedeckt, in der Rechten die Lanze, sprengte er mit dem Rosinante im vollen Galopp auf die vorderste Windmühle los und gab ihr einen Lanzenstich in die Flügel. Doch der Wind drehte ihn so heftig herum, daß die Lanze in Stücke sprang, Pferd und Reiter aber eine große Strecke über das Feld weggeschleudert worden..."

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In der Nacht träume ich einen Traum vom Kampf der Elemente: Die verschwisterten Elemente Feuer und Luft mit ihren Söhnen aus Metall gegen ihre Brüder Wasser und Erde, deren Kinder die Welt organischen Leben ist. Deus ex Macina - wenn diese alle ihre Kräfte vereinigen würden, könnten sie nicht die Erde aus den Angeln der Gravitation heben ...? Darüber erkenne ich plötzlich auch die Vervielfältigung des Idealisten und moralisierenden Kleinbürgers Don Qu.; neben jedem sein ganz persönlicher Referent Sa. Die Dummheit, die im Angesicht der Realität Blindheit gebiert, nimmt zu und steht in ihrer Selbstgewissheit in Reihen - auf diesem Feld, wie auch in diesem Land. Eine wunderliche Metamorphose vom gepanzerten Ritter der traurigen Gestalt über moderne Hochtechnologie hin zum vollendeten bürgerlich-demokratischen Individuum... Beim Erwachen strich ich mir über die Augen, um die bitterbösen Träume wegzuwischen - aber der Gedanke blieb.

Nach dem Aufstehen sah ich aus dem Hotelzimmerfenster über die tiefliegenden Morgennebel hinweg zu den Feldern der Krieger auf dem Hügel gegenüber. Von hier sah es aus, als ob einige der scheinbar dichter stehenden Krieger in einen Ringkampf verstrickt seien - andere dagegen, die weiter voneinander entfernt standen schienen miteinander einen ortsgebundenen Reigen nur mit ihren Armen zu tanzen. "Worauf bereiten sie sich vor; was planen sie untereinander?!" fragte das Ich.

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Epilog:
Ein halbes Jahr später, zu meinem Geburtstag, fuhr ich in meinem Auto allein durch die Landschaft hinter Marburg; wandelte im Geiste auf den Spuren meiner Vergangenheiten. An einem Windrad hielt ich an und ging zu ihm hin, denn es schien mir etwas mitteilen zu wollen. An dem Generatorkasten angelehnt fand ich ein unabgeschlossenes altes grünes Fahrrad, vom langen Stehen und Warten mit Gras und Schlingpflanzen überwachsen und von Käfern bewohnt - aber sonst noch in sehr gutem Zustand. Ich nahm es mit, denn ich wußte, es war ihr Geschenk an mich...


© Frühjahr 1999 by Siegrid Schmeer, Marburg



  
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